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Natur, Kunst, Struktur. Anmerkungen zu den Arbeiten von Martina Schultz
 
Von Peter Lodermeyer
 
„Wem die Natur ihr offenbares Geheimnis zu enthüllen anfängt, der empfindet eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin, der Kunst.“ Es gibt kaum einen besseren Einstieg in die Beschäftigung mit der Kunst von Martina Schultz als den Aphorismus 720 aus Goethes Maximen und Reflexionen. Denn am Anfang steht für sie die Faszination für die Vielfalt und rätselhafte Schönheit von Naturformen. Aus ihr ergab sich mit der Zeit „eine unwiderstehliche Sehnsucht“, das dringende Bedürfnis nach der künstlerischen Um- oder Übersetzung dieser Naturerfahrungen in Bilder. Dies geschah zunächst in Form einer jahrelangen autodidaktischen Aneignung und Erforschung von dafür geeigneten Maltechniken. Seit 2006 ist Martina Schultz als freie Künstlerin tätig. Mit ihren Arbeiten will sie, wie es in ihrem Künstlerstatement heißt, „Spuren der Natur wahrnehmen und durch experimentelles Arbeiten mit verschiedenen Techniken und Materialien in abstrakten Bildwelten sichtbar machen.“ Es sind Spuren dessen, was man mit Goethe treffend als „offenbares Geheimnis“ bezeichnen kann: die unerschöpfliche Formbildungskraft der Natur, ihre auf allen Skalierungsebenen, von der mikrophysikalischen bis zur kosmischen Größenordnung stattfindenden Veränderungsprozesse, die zu vielfältigsten Formstrukturen in zahllosen Variationen führt. „Offenbar“ sind sie, weil die Naturstrukturen jedem, der aufmerksam und mit offenen Sinnen durch die Welt geht, klar und deutlich vor Augen liegen – ein „Geheimnis“ aber dennoch, weil die innersten Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten dieser Strukturbildungen nie bis ins Letzte zu verstehen, d. h. in ihrem unverfügbaren So-Sein begrifflich und verstandesmäßig nicht annähernd einholbar sind.
 
Schon die frühen Aquarelle von Martina Schultz zielen auf das Sichtbarmachen von naturhaften Strukturen. Als Quereinsteigerin nahm sie sich die Freiheit, sogleich mit malerischen Techniken zu experimentieren, um zu adäquaten Übersetzungen der Naturformen in Malerei zu kommen. Das Aufstreuen von Meersalzkristallen auf das Aquarellpapier etwa, die sich in der Farbflüssigkeit partiell auflösen und beim Trocknen wieder verfestigen, hatte bei ihr keineswegs das Ziel, die Darstellung der Motive zu beleben; vielmehr waren die sich durch die Prozesse des Auflösens, Eintrocknens und Ausschwemmens des Materials selbsttätig zeigenden Strukturen selbst das Motiv. Die mal dichter, mal lockerer verteilten Formeinheiten, die Farbverläufe und Auswaschungen, die sparsamen Akzentuierungen von Linienverläufen mit spitzem Pinsel summieren sich in diesen jeweils nur 30 x 30 Zentimeter messenden Arbeiten zu komplexen Bildfeldern, die eine Vielzahl von Assoziationen unterschiedlichen Maßstabs freizusetzen vermögen. Handelt es sich um mikroskopische Schnitte durch organisches Gewebe, den Nahblick auf die mineralische Feinstruktur von Gestein, aus der Vogelperspektive betrachtete geologische Großformen mit mäandernden Flussläufen? Alle diese Lesarten (und viele mehr) sind möglich, keine jedoch schöpft das reiche assoziative Potenzial der äußerst detailreichen Aquarelle auch nur annähernd aus.
 
Die Malerei von Martina Schultz geht zwar vom konkreten Natureindruck aus, springt aber unmittelbar auf eine abstrakte, strukturelle Ebene. So sehr sie von den Naturerlebnissen der Landschaften ihrer mecklenburgischen Heimat und insbesondere der Ostseeküste geprägt sein mag – die Übersetzung ins Medium der Malerei bedeutete für Martina Schultz von Anfang an nicht das „Porträtieren“ von Naturgegebenheiten, auch nicht irgendeine Art von Landschaftsdarstellung, sondern, in einem pointierten Goetheschen Sinne, „Auslegung“ der Natur im autonomen Kunstwerk. Sie selbst nennt ihre Arbeiten „Ausschnitte, Fragmente“. Es ist der Nahblick auf ein reich differenziertes, sich dem Überblick entziehendes virtuelles Strukturganzes, was sie interessiert. Das von ihr favorisierte quadratische Bildformat eignet sich dafür ideal, weil es keine Richtung vorgibt, den Blick des Betrachters nicht über die Bildgrenzen hinausführt, sondern auf den gegebenen Bildausschnitt fokussiert.
 
Neben den kleinformatigen Aquarellen entstanden bald größere Acrylgemälde auf Leinwand, wobei sich deren formale Eigenart vor allem aus den Fließ- und Trocknungseigenschaften der wässrigen Acrylfarbe selbst ergab. So entstanden unter anderem äußerst dynamische, farbstarke Bilder, meist in Weiß und verschiedenen Grün- und Blautönen, bei den sich zwischen den in der Fließbewegung festgehaltenen Farbflächen lebhafte Grenzverläufe und filigrane Verwirbelungen einstellen, die an Meeresströmungen oder an meteorologische Phänomene wie Luftmassenwirbel und Wolkenbildung denken lassen. In anderen Gemälden ließ die Künstlerin Farbe in zahlreichen Arbeitsgängen über die Leinwand rinnen, bis sich vielschichtig lineare Überlagerungen und netzartige Verflechtungen zwischen den Farb-„Synapsen“ einstellten.
 
Seit 2009 experimentiert Martina Schultz mit der Mischung aus Acrylfarbe und feinkörnigem Sand. Die daraus entstehenden Werke gehen über die Gattung der Malerei hinaus und sind vielleicht am treffendsten als reliefhafte Materialbilder zu bezeichnen. Diese Werke, deren Farbigkeit auf Grauabstufungen, neuerdings auch auf rostige Braunwerte reduziert ist, sprechen mit den starken Kontrasten in der Oberflächengestaltung in hohem Maße den Tastsinn des Betrachters an.
 
Bei einer Reihe neuerer Arbeiten von 2015 ist eine Grundschicht des Farb-Sand-Gemischs durch eine Vielzahl vertikaler Einschnitte strukturiert, während eine zweite, sie partiell überlagernde, amorph ausfransende betongraue Schicht glatt gestrichen ist. Diese weist jedoch haarfeine Risse auf, die in die Fläche eingeritzt und mit feinsten Pinselstrichen aufgetragen sind, ein Detail, das den Betrachter zum konzentrierten Nahblick auffordert. In ihrer jüngsten Werkreihe strukturiert die Künstlerin ihr Material mithilfe von Lochblechen, wodurch die Oberflächen dieser Arbeiten ein plastisch hervortretendes Noppenraster erhalten (vergleichbar einer umgekehrten Wabenstruktur). Durch das Abheben der Bleche kommt es zu unkalkulierbaren Verletzungen, Abrissen und Fehlstellen, welche die geometrische Rasterstruktur spannungsvoll aufbrechen. Das intensive, helle Rostbraun dieser Materialbilder lässt an industriell gefertigte Eisenteile denken, die der Korrosion ausgesetzt sind: Zersetzung als naturhafter Formprozess. Wie es scheint, deutet sich in diesen Sandreliefs bereits das nächste Materialexperiment an. Rost ist ein Stoff, von dessen Materialität und Farbigkeit Martina Schultz zunehmend fasziniert ist.
 
(Dr. Peter Lodermeyer ist promovierter Kunsthistoriker, freier Autor, Kritiker und Kurator mit Wohnsitz in Bonn)